Verwirrungen.
Während ich mich gerade auf meinem Platz im Konzertsaal einrichte, bemerke ich den Blick eines Mannes mittleren Alters. Er ist anscheinend mit seinem Sohn gekommen, und als ich zurückblicke, sagt er zu diesem: Hol bitte noch ein Programmheft., der Sohn sagt: Hä, warum, eins reicht doch., und der Vater sagt eindringlich: Tu, was ich dir sage.
Irgendetwas stört mich an diesem Dialog, und deshalb will ich auf die erwartbare Situation auch nicht eingehen, denn natürlich, kaum, dass der Sohn gegangen ist, dreht sich der Vater zu mir, aber mir ist das irgendwie auch zu billig, immerhin bin ich im Alter des Sohnes und ein bisschen weniger erwartbar fände ich da durchaus angemessen, und so lasse ich ihn mich anstarren, vier, fünf, sechs, sieben Sekunden, dann gibt er frustriert auf. Er zieht sein Handy aus der Tasche und als Hintergrund, wie ich von meinem Platz hinter ihm mühelos sehen kann, er, seine Frau und die beiden Kinder. Ich bin nun wirklich kein Moralapostel und habe mich weder von Eheringen noch sonst etwas abhalten lassen, wenn ich einen Mann attraktiv fand, aber an manchen Tagen kotzt mich diese scheinheilige Heile-Familie-Doppelmoral wirklich an.
In der Pause will ich dementsprechend meine Unklarheit in Sekt ertränken und treffe auf den Souveränen. Nach all der Zeit sind wir immer noch beim "Sie", nur bin ich nicht in der Position, das zu ändern. Wir reden also ein bisschen über dies und das und plötzlich bemerke ich irritiert, dass er mit mir flirtet, was er bisher nie gemacht hat. Ich denke, ich muss mich irren, schließlich ist er immer sehr charmant und galant, aber nein, er lächelt eine Spur zu intensiv, sieht mir tief in die Augen und berührt mich bei jedem Scherz am Arm. Neulich, denke ich, neulich habe ich ihn noch händchenhaltend mit seiner Frau gesehen, nach all den Jahren strahlen beide immer noch eine gewisse Verliebtheit aus. Aber sie ist ja, im Gegensatz zu mir, auch nicht da.