Melancholien.
Ich hätte, wie immer oder mindestens von Zeit zu Zeit, Lust, jemand Fremden zu treffen. Auf eine Anzeige zu antworten, und ihn dann im Café oder Restaurant treffen und dort schon verrückt zu machen, dann mit ihm mitzugehen und das alles. Aber die Männer, ach, die Männer. Entweder sie beschreiben sich als "hübsch, Typ Geschäftsmann" und sind dann alte Säcke, von hübsch keine Spur und noch weniger von Geschäftsmann, oder sie sind von vornherein schon albern und wollen "viel Zärtlichkeit und Kuscheln", da dreht sich bei mir direkt der Magen um. Gibt es nicht mehr den klassischen Affärenmann? Der eine liebe, nette, brave Ehefrau zuhause hat und jetzt für gewisse Stunden junge Abwechslung sucht? Der vielleicht im Alltag etwas anstrengend oder auch unterkühlt ist, aber zumindest tageslichttauglich und nicht ganz dumm, so dass zumindest ein Smalltalk möglich ist? Wo ist so ein Mann...?
Überraschungen.
In meinen Mittzwanzigern arbeitete ich bei einem Projekt in einer anderen Stadt. Schon bei den Probenzeiten erfuhr ich, dass der weibliche und der schwule Teil des Orchesters rettungslos verliebt in den blonden Posaunisten war, dieser jedoch niemanden eines Blickes würdigte.
Auf der Premierenfeier stand ich in der Tür und unterhielt mich, als der Posaunist durch ebenjene schritt, wie vom Donner gerührt stehenblieb und mich ansah: Hi., ich sah ihn verdutzt an und sagte, mit deutlicher Ironie: Hi?. Ab da wich er nicht mehr von meiner Seite. Die Bratschistin und die Klarinettistin sahen ungläubig und eifersüchtig herüber, während er seinen Arm um mich legte, mich umgarnte und mir eindeutige Angebote machte. Wie alt bist du eigentlich., fragte ich ihn noch und er sagte, er sei dreiundzwanzig. Zu jung, eigentlich, und so hübsch und galant, dass er seinen Hahnenstatus verdient hätte, fand ich ihn eigentlich auch nicht, aber ich fühlte mich, das muss ich doch deutlich sagen, geschmeichelt und so kam er mit nach Hause.
Am nächsten Tag, nachdem ich ihn doch mehr oder weniger brüsk hinausgeworfen hatte, da er mir deutlich zu anhänglich war, sagte eine Kollegin: Na, da hattest du aber Glück, er ist nämlich gerade erst achtzehn geworden., und ich sah sie entsetzt an. Aber er schien nun auch immer wegzusehen, wenn wir uns sahen, und ich tat es nicht weniger und eigentlich war es mir auch egal.
Bis zur Abschiedsfeier, als ich mit dem Techniker am Tisch saß und flirtete, und der Posaunist plötzlich neben uns stand. Er vertrieb die Klarinettistin vom Stuhl neben mir, setzte sich, und legte unter dem Tisch direkt seine Hand auf mein Bein, aber dort blieb sie nicht, nein, er ließ sie direkt zwischen meine Beine rutschen. Ich flirtete unbeeindruckt weiter mit dem Techniker, während er dort immer heftiger zugange war. In der allgemeinen Aufbruchsstimmung legte er wieder seinen Arm um mich, und, auf der Straße angekommen, zog er mich in den nächsten Hauseingang, schob mir meine Bluse hoch und umfasste mich leidenschaftlich. Ich war froh, dass es dunkel war, musste ich doch ein Lachen unterdrücken und die völlige Verständnislosigkeit, was zur Hölle er eigentlich von mir wollte, also: von mir? Aber ich ließ ihn gewähren, und später verabschiedeten wir uns recht trocken. Das war das letzte Mal, dass wir uns gesehen haben.
Eigentlich.
Gestern abend also war es soweit und nach all den Wochen saßen wir uns wieder gegenüber. Trotzdem haben wir nicht viel gesprochen und ich war sowieso sehr müde und nachdenklich. Vor mehr als zwei Jahren habe ich mich dagegen entschieden, mit dir zu arbeiten, und du hattest mir das sehr übelgenommen. Wochenlang bekam ich wütende Nachrichten von dir, auf die ich nicht reagierte. Nun bereue ich - ein Charakterzug, der mir eigentlich fremd ist - ich bereue, dass ich mich nicht für dich, sondern für sie entschieden habe. Ich denke, es hätte zwischen uns doch eigentlich besser gepasst.
Veränderungen.
Es gibt solche Tage, an denen ich wahnsinnig genervt von Männern bin, von ihrer vorsichtigen, unentschlossenen und abwartenden Art. Verständlich ist es ja, in der Hysterie der Diskurse, dass sich keiner mehr traut, einfach mal die Hand auf das Bein zu legen oder einen anzüglichen Spruch ins Ohr zu raunen. Trauriger und langweiliger wird die Welt dadurch schon. Oder, zumindest, mein Leben wird es.
Irritationen.
Als ich gestern abend wieder einmal diesem Kulturfunktionär über den Weg lief, was in regelmäßigen Abständen bei diversen Veranstaltungen passierte, der mich dann sogar kurz ansah, vermutlich weil ich ihm bekannt vorkam, aber dann wieder wegsah; als ich ihm gestern Abend also wieder einmal über den Weg lief, fühlte ich mich an ein Ereignis kurz nach meinem Abitur erinnert. Damals hatte ich ein Praktikum absolviert, und wurde einem überaus hübschen Kollegen vorgestellt. Doch egal, was ich auch tat, er blieb zwar nett, aber distanziert. Nichts, aber auch gar nichts schien ihn auch nur in irgendeiner Weise an mir anzusprechen, und das derart offensichtlich, dass ich letztendlich zu dem Schluss kam, der Kollege könne nur schwul sein. Gegen Ende meines Praktikums traf ich eine andere Praktikantin, durchaus attraktiv, und bei einem Glas oder auch mehreren Gläsern Wein klagte ich ihr mein Leid, und sie riss es vor Lachen fast vom Barhocker. Sie hatte sich tatsächlich, wie ich, auch in den hübschen Kollegen verguckt, und das gleich an ihrem ersten Tag, woraufhin sie, wie ich, vergeblich versucht hatte, ihm irgendwie ein Zeichen des Flirts zu entlocken, und schließlich, wie ich, auch glaubte, dieser Mann könne schlichtweg nur schwul sein. Doch die Praktikantin wusste noch mehr. Besagter Kollege, so sagte sie, war nicht schwul, sondern hatte tatsächlich eine Freundin. Ich lachte und sagte: Na klar., und glaubte ihr nicht. Aber dann, am nächsten Tag in der Mittagspause, stand da eine Blonde und fragte nach dem Kollegen und fassungslos sah ich zu, wie er strahlend auf sie zukam und sie küsste. Die Praktikantin und ich standen daneben und konnten die Welt nicht mehr verstehen.
Vergänglichkeit.
Ich hatte den Cellisten einige Male getroffen, in Hotelzimmern, im Probenraum, wo auch immer es passte. Wir waren auch zusammen ausgegangen, Hand in Hand, oder sein Arm um meine Taille, wir schlenderten durch die Öffentlichkeit und es schien ihm egal zu sein, dass sie uns sahen, seine Freunde und meine Freunde, es schien ihm tatsächlich egal zu sein, obwohl seine Freunde auch seine Frau kannten, aber es schien ihm, offenbar, so schien es, egal zu sein.
Dann jedoch, wir waren verabredet, kam ich eines Abends an unseren Treffpunkt und irgendwie hatte ich ein sonderbares Gefühl, und trat nicht, wie ich es sonst so oft tat, von hinten an ihn heran, um ihm etwas Unanständiges ins Ohr zu raunen, sondern ich entschied mich dann doch, aus diesem sonderbaren Gefühl heraus, frontal auf ihn zuzugehen, und in dem Moment, als ich ihn anlächeln wollte, sah ich seinen warnenden Blick. Ich verzog also keine Miene und ging stattdessen auf den Eingang zu, als ich eine Frauenstimme hinter mir hörte: Kennen wir uns nicht. Seine Frau stand vor mir. Ich kannte sie vom ersten Treffen mit dem Cellisten, als sie meinen anzüglichen Blick bemerkte, mit dem ich ihn ansah, und sie mir ihrerseits einen umso strengeren zuwarf, den ich tunlichst ignorierte. Nun stand sie vor mir, sah mich durchdringend an, und ich bemühte mich, möglichst verwirrt auszusehen und fragte zurück: Entschuldigung, Sie kommen mir auch bekannt vor, aber ich kann Ihr Gesicht gerade nicht zuordnen. Als sie mir dann sagte, woher wir uns kannten, tat ich erstaunt und lachte und sagte, wie sehr es mich freue, dass wir uns wiedersähen, und ich sagte zum Cellisten: Ach, und Sie müssen dann der Mann sein, achja, wie schön., und ich schüttelte dem Mann, mit dem ich am Vortrag noch vermutlich den halben Hoteltrakt wachgehalten hatte, als Fremde die Hand. Seine Frau sah mich prüfend an, wirkte dann jedoch überzeugt und sie drehte sich zum Gehen um, der Cellist warf mir aus gesicherter Entfernung einen dankbaren Blick zu. Er wirkte erleichtert.
Zwei Tage später lagen wir wieder nebeneinander und rauchten, als er plötzlich sagte: Ich weiß nicht, ob ich das noch kann.
Der Cellist.
Das ist übrigens mein Onkel., sagt der Nette und deutet auf den älteren Mann neben sich: Er ist Cellist. Freut mich., sage ich und gebe die Hand, seine blauen Augen blitzen, sein Mund verzieht sich ironisch zu einem Lächeln und an seinem Blick erkenne ich, dass er ganz genau merkt, dass meine Knie gerade weich werden. Als wir die Treppe zum oberen Saal nehmen, flüstere ich dem Netten ins Ohr: Wenn er nicht dein Onkel wäre..., aber da taucht der Cellist schon hinter mir auf und sieht mich an, als hätte er gehört, was ich da eben geflüstert habe. In der Pause halte ich mich an meinem Glas Weißwein fest, der Cellist steht mir gegenüber und ich kann nicht verhindern, dass mein Blick immer wieder nach unten rutscht, dem leicht aufgeknöpften Hemd nach, mir wird ganz anders, und noch mehr, als ich mich von seinem wissenden Lächeln und dem stechenden Blick ertappt fühle. Als wir zum Bahnhof gehen, beugt er sich zu mir und sagt leise: Ich bin doch viel zu alt für dich., und ich sage: Wegen diesem Satz bringe ich mich eines Tages noch um., und er lacht. Sehen wir uns wieder., fragt er nicht, sondern er sagt es feststellend und ebenso sage ich: Na, ich hoffe doch.
Wiener Frühling.
Mein erster Frühling in Wien war sonnig warm, die Uhren schienen langsamer zu ticken als in den deutschen Städten und, ach ja: die Männer. Ging ich an einem Kaffeehaus vorbei, musterten sie mich ungeniert von oben bis unten, lief ich vor einem Mann auf eine Tür zu, joggte er an mir vorbei, nur um mir selbige aufzuhalten, und es gab mir den Rest, als der schnittige Polizist vor dem Rathaus mir nicht nur augenzwinkernd einen schönen Tag wünschte, sondern mir erst unverhohlen in den Ausschnitt und dann, wie ich im Augenwinkel bemerkte, auf den Hintern sah. Die Männer also, finde ich, wären durchaus ein Grund, nach Wien auszuwandern.
Alltäglich.
Ich glaube, ich hol mir einfach ne Flasche Korn und lass mich vollaufen., sagt der Blonde deprimiert zu seinem Kumpel. Die beiden stehen im Supermarkt wenige Meter weg von mir, und ich sehe, wie der andere dem Blonden mitleidig auf die Schulter klopft. Der Blonde bemerkt meinen Blick und erwidert ihn, ich sehe ertappt weg. Mein restlicher Einkauf verläuft ungewohnt erratisch und so laufe ich den beiden noch ein paar Mal über den Weg, und schließlich stellen sie sich noch an der gleichen Kasse an wie ich. Ich merke, wie er mich beobachtet und warte aber, bis ich bezahlt habe, um ihn anzusehen, und tatsächlich höre ich wenige Momente später den Blonden hinter mir heranjoggen und mich nach meiner Nummer fragen.
(Un)männlichkeiten.
Gegenüber in der Bahn sitzt ein älterer Mann, der definitiv Probleme mit dem Älterwerden hat. Das Resthaar hat er trumpiesk aufgeplustert und zurückgegelt, der Anzug ist eine deutliche Spur zu ausgefallen, das Einstecktuch schlicht geschmacklos, und es gibt mir den Rest, als er in seine Jackentasche greift und eine Schuhpolitur für unterwegs herauszieht, mit der er sich die Lackschuhe spiegelgleich poliert. Während er das tut und ich ihn beobachte, merke ich, wie noch ein anderer jüngerer Typ ihn ebenfalls irritiert ansieht, unsere Blicke treffen sich und wir grinsen vielsagend. Der Alte hingegen will am Hauptbahnhof aussteigen und steht dafür schon viel zu früh auf, als würde er sonst den Ausstieg sicher verpassen. Er tastet seine Jackentaschen ab und atmet etwas zu laut auf, als er den Schlüssel klimpern hört. Es gibt, denke ich mir, während ich ihm emotionslos zusehe, nichts unmännlicheres als Panik und Hysterie. Im gleichen Moment ertönt die falsche Durchsage und der Alte bekommt fast einen Herzanfall: Ist das hier gar nicht der Hauptbahnhof., fragt er mich schnappatmend und ich sage: Doch, doch., und er strahlt mich an. Als die Bahn hält, versucht sich der Alte noch in Galanterien, lässt mich mit einer etwas zu jovialen Geste vor ihm aussteigen, mit einem schmierigen: Ladies first, was ich mit einem mitleidigen Lächeln quittiere.