Augenhöhe.
Er kennt meine andere Seite. Er kennt meine andere Seite, und das ist vielleicht oder sogar sehr wahrscheinlich der Grund, warum ich überhaupt noch bei ihm bin. Momentan denke ich viel darüber nach, alles zu beenden, ich habe im Kopf die Wohnung schon anders eingerichtet, im Kopf bereits durchgeatmet, dass alles weg ist, dass ich nun wieder jeden Tag im eigenen Trott verbringen kann. Manchmal bin ich neidisch auf die, die mit ihren Partnern heiles Glück und Urlaube verbringen, manchmal sehne ich mich dann auch danach, dass da so ein Mann zu mir in die Wohnung kommt und sagt: Los, heute unternehmen wir was., und dann denke ich mir, dass mir das nach drei Tagen auch auf die Nerven gehen würde. Und was würde dieser Mann sagen, wenn er wüsste, wer ich noch bin, was ich noch mache, wenn er wüsste, wie wenig treu ich sein kann, wie wenig Partnerin ich sein kann, wie wenig Sex für mich mit Liebe zu tun hat. Ich weiß noch, als ich zu meinem Ex damals sagte, dass ich jeden küssen und mit jedem schlafen könnte, aber händchenhaltend durch die Straßen zu gehen - das sei für mich eine echte Herausforderung. Mein Ex hätte mir fast den Kopf abgerissen. Er hingegen, er hat es verstanden.
Als wir uns damals kennenlernten, dachte ich mir: Das ist das erste Mal, dass ich einen Mann treffe, der von meinem Kaliber ist.
Das ist er auch. Deshalb schläft er gerade auch mit einer anderen Frau, während ich das schreibe.
Wie war das noch? Man soll gut aufpassen, was man sich wünscht, es könnte in Erfüllung gehen? Da haben wir den Salat...
Irritationen.
Apropos gestern und mein Hineinsehnen in mein einundzwanzigjähriges Ich: Bisweilen finde ich es irritierend, dass mir mein einundzwanzigjähriges Ich und die Jahre davor näher und vertrauter vorkommen, als die darauffolgenden Jahre. Lese ich Texte, die ich zuvor geschrieben habe, erkenne ich mich wieder, die Texte danach befremden mich in einem ungewohnten Maße. Ich wirke darin stupide, gehirngewaschen, selbstgerecht, vermutlich war ich damals tatsächlich "verliebt"? Was bin ich nun - ent-liebt, ent-täuscht, ernüchtert?
Nostalgie.
Lag es an meiner misanthrophischen Stimmung gestern, die so völlig entgegen meiner normalerweise eher milden Sichtweise stand, dass ich mich plötzlich in mein einundzwanzigjähriges Ich zurücksehnte, als ich noch jeden Mann attraktiv finden konnte, an dem einen noch dieses und an dem anderen noch jenes anziehend fand und auch Frauen schön fand, schön zum Anschauen, ihr Lächeln mochte oder ihre Art zu gehen.
Gestern hingegen fuhr ich in der Bahn bis ans andere Ende der Stadt und weder auf dem Hin- noch auf dem Rückweg begegnete mir während der jeweils dreiviertelstündigen Fahrt irgendjemand, mit dem ich hätte Blickkontakt aufbauen wollen. Die einen alte, faltige, stinkende Dinosaurier, die anderen Milchgesichter, der dort drüben sähe ganz nett aus, trüge er nicht diese Clownsschuhe an seinen Storchenbeinen, und der andere lächelte mich strahlend an, aber sah aus wie siebzehn und so starrte ich deprimiert ins Fenster, denn auch die Frauen deprimierten mich mit ihrer Kindlichkeit oder ihrer Pseudo-Reife so sehr, dass ich schließlich darüber nachdachte, wie man eigentlich noch jemanden begehrenswert finden kann, also überhaupt.
Fragen und Spiele.
Wie alt bist du eigentlich, fragt der ältere, dickliche Mann und ich sage: Alt genug. Er grinst ungläubig und fragt noch einmal nach: Weißt du, was ich meine mit der Frage., und ich sehe ihn an und sage unwirsch: Wollen wir weiter das Fragespiel spielen oder was.
Er stutzt, nickt dann aber und bedeutet mir, ihm nachzugehen. Wenig später sind wir auf seinem Zimmer, er drückt mich gegen die Fensterscheibe, schiebt meine Kleid hoch und ich höre ihn seinen Gürtel öffnen.
Ereignisse.
Er, der mir vor einem Jahr auf einer Party unters Kleid fasste und mich gegen die Wand drückte, hatte sich danach nicht mehr gemeldet. Ich mich, wie immer, auch nicht. Umso seltsamer war es, als ich ihn einmal wiedertraf, er war ganz professionell und ich sowieso, ich sagte nicht viel zu ihm, und er lächelte, aber dabei blieb es.
Bis ich mich verabschiedete und zu ihm sagte: na dann bis irgendwann., und er zog mich zur Seite und sagte: diesmal sehen wir uns hoffentlich früher wieder, ich weiß ja jetzt, wann du immer hier bist., und ich sagte ironisch: daran lag es also, ich war schon enttäuscht., und er lachte laut, sah sich um, und nachdem niemand da war, küsste er mich stürmisch und fasste mir unter die Bluse. Dann ging er und wir haben uns nicht mehr gesehen.
Pathos und Erfolg.
Neulich abends fragte ich dich wegen einer Veranstaltung und du beugtest dich zu mir und sagtest: Die Chefin davon ist meine Ex.
Ich dachte nicht an dich oder deine Ex, aber an meinen Ex und was er nun wohl so macht. Das letzte Mal, dass ich ihn sah, saß er auf dem Badewannenrand und heulte sich die Seele aus dem Leib. Ich sagte, komm das bringt doch nix., und schickte ihn vor die Tür, er klingelte Sturm, ich machte auf und er sagte pathetisch: Sag mir, dass es aus ist, sag es., und ich sah ihm in die Augen und sagte klar und deutlich: Es ist aus und das war es schon lange., und er heulte auf und verschwand, ich kontrollierte noch Wochen später die Todesanzeigen, weil ich schon fürchtete, er hätte in dieser Nacht sein Auto gegen einen Baum gesteuert, wo ich schon wenige Nächte später mit einem jungen Medizinstudenten im Bett lag. Ich dachte also an meinen Ex und was er nun wohl so macht, und tatsächlich hatte er, der immer nur der Gescheiterte an meiner erfolgreichen Seite war, tatsächlich hatte er sein Leben hinbekommen, leitete jetzt eine Institution, sah zwar fürchterlich schrecklich aus, aber war verheiratet und erfolgreich. Manchmal frage ich mich, ob das an mir liegt, ob ich meinen Gegenpart ins Versagen dränge und ohne mich eine Last vom andern abfällt.
Träume.
Heute Nacht habe ich wieder von dir geträumt. Es erinnerte mich an diesen einen Traum, als ich träumte, dass ein fremder Mann mich in ein Zimmer stieß, mich an den Haaren riss und ich ihm erregt die Hose herunterzog, doch dann hörte, dass jemand die Treppe hinauflief und in Panik, man könnte mich hier mit dem Fremden entdecken, aufsprang, in den Flur rannte, die Tür zum Treppenhaus öffnete und dich die Treppe hinaufstürmen sah. Als du mich da in der Tür erblicktest ohne den Fremden, allein und angezogen, schienst du sichtlich erleichtert.
Winter.
Es ist kalt, mir ist kalt. Es ist kalt, mir ist kalt, und mir wird noch kälter, wenn ich dich ansehe. Es ist kalt geworden zwischen uns, nur noch kalt.
Erinnerst du dich an den Sommer, an das Feuer, den Rotwein, die brennenden Blicke? Die lauen Sommernächste am See? Rauchend, trinkend, Haut an Haut?
Der See ist gefroren. Dein Herz auch.
Sein.
Es ist fünf Uhr morgens, die meisten sind schon nach Hause gegangen. Nur wir stehen noch da, ich, die Blonde, der Schlanke und er. Während die Blonde und der Schlanke tanzen, raunt er mir schmutzige Dinge ins Ohr und schiebt seine Hand unter mein Kleid. Mir ist schwindlig, also trinke ich.
Der Schlanke setzt sich volltrunken ans Klavier und spielt, schön und ruhig und verträumt, die Blonde setzt sich auf den Boden und hört zu. Ich setzte mich auch, auf die Couch, und er legt sich hin, den Kopf in meinem Schoß, ich streiche ihm gedankenverloren durchs Haar und wir lauschen und sind ganz hier, in dem Moment, den wir morgen längst vergessen haben.
Berührungen.
In der Bahn, gegenüber ein Mann, ich sehe aus dem Fenster und sehe in der Spiegelung, dass er mich beobachtet. Im Tunnel, durch das Dunkel und die Spiegelungen der Spiegelungen mustere ich ihn, seine grau melierten Haare, sein Maßanzug, er sieht ein wenig aus wie du, und ähnlich wie du ist er mir eigentlich zu schlank.
Ich beobachte ihn weiter und erschrecke, als plötzlich eine Hand mein Knie berührt, er beugt sich nach vorne, streicht mir schon fast zärtlich über das Knie, und dann fragt er, mit einem Kopfnicken zum Boden weisend: Ist das ihr Einkaufszettel, der da liegt?, ohne seine Hand von meinem Knie zu nehmen. Nein, aber danke für die Frage, sage ich, merke gerade noch rechzeitig, dass ich aussteigen muss und werfe ihm ihm beim Aussteigen noch einen tiefen Blick zu.